Für viele queere Menschen ist Glauben ein sensibles Thema:
Einige erleben Religion als Kraftquelle, andere als Ort der Verletzung, Ausgrenzung oder Schuldgefühle. „Queeres Glauben“ heißt für uns: Du darfst du selbst sein – mit deiner sexuellen Orientierung, deiner Geschlechtsidentität und deinem Glauben.
In Deutschland ist die Ehe für alle seit dem 01.10.2017 gesetzlich möglich; gleichgeschlechtliche Paare haben damit die gleichen zivilrechtlichen Eheschließungsrechte wie heterosexuelle Paare. Wikipedia+1
Viele Religionsgemeinschaften reagieren darauf – manche öffnen sich, andere bleiben beim Nein.
Unser Ziel als Verein:
- Orientierung im Dschungel aus Kirchen, Religionen und Positionen
- Hinweise auf queerfreundliche Gemeinden, Projekte und Ansprechstellen
- einen sicheren Raum, um Erfahrungen zu teilen – ohne Missionierung, ohne Druck
Wir geben hier einen groben Überblick, wie verschiedene Glaubensrichtungen mit queeren Menschen umgehen. Die Details können sich je nach Gemeinde, Region und einzelner Leitung stark unterscheiden.
1. Christentum allgemein: große Spannbreite
Unter dem Dach „Christentum“ gibt es verschiedene Haltungen zu LSBTIQ*:
- von offen queerfeindlich („Sünde“, „Heilung“, Ausschluss aus Diensten)
- bis zu voller Gleichstellung, inkl. Trauung queerer Paare und queerer Pfarrer*innen.
Zwischen diesen Polen stehen viele Gemeinden irgendwo „dazwischen“:
Sie betonen Wertschätzung für queere Menschen, halten aber an einer traditionellen Sexualmoral fest oder trauen gleichgeschlechtliche Paare nicht.
Es gibt seit Jahrzehnten christliche Gruppen, die ausdrücklich für queere Rechte kämpfen – z. B. die ökumenische Arbeitsgruppe „Homosexuelle und Kirche“ (HuK e. V.), die Segnung/Trauung und Gleichstellung queerer Christ*innen einfordert. huk.org
2. Evangelische Kirchen in Deutschland
Die evangelische Landschaft in Deutschland besteht aus 20 Landeskirchen, die jeweils eigene Regelungen zu Segnungen und Trauungen gleichgeschlechtlicher Paare haben.
2.1. Trauung & Segnung
- In der Mehrzahl der Landeskirchen sind gleichgeschlechtliche und verschiedengeschlechtliche Paare inzwischen liturgisch weitgehend gleichgestellt: Es gibt richtige Traugottesdienste für gleichgeschlechtliche Ehepaare. Evangelisch.de+1
- In einigen Landeskirchen sind nur Segnungsgottesdienste möglich, die nicht offiziell „Trauung“ heißen oder sich liturgisch unterscheiden sollen. Kirchenrecht Online-Nachschlagewerk
- Andere haben in den letzten Jahren nachgezogen oder sind noch in laufenden Diskussionen; Entscheidungen können sich daher ändern.
Ein Beispiel ist die Evangelische Kirche in Hessen und Nassau (EKHN):
Dort sind gleichgeschlechtliche Trauungen seit 2019 kirchenrechtlich einer „Trauung“ gleichgestellt. Schon seit 2002 waren offizielle Segnungen möglich – damals relativ früh im Vergleich zu anderen Landeskirchen. ekhn.de
Im Gegensatz dazu hat die Evangelische Landeskirche in Württemberg 2025 erneut knapp gegen die Öffnung der Trauung für gleichgeschlechtliche Paare gestimmt; dort bleibt es bei Segnungsgottesdiensten, die keine vollständige Gleichstellung bieten. DIE WELT+1
2.2. Queerfreundliche Praxis
In vielen evangelischen Gemeinden gehören heute dazu:
- Regenbogenfahnen am Gemeindehaus
- explizite Statements gegen Queerfeindlichkeit
- queersensible Seelsorge, queere Hauskreise oder Gottesdienste
- öffentliche Trauung und Segnung queerer Paare, oft in Kooperation mit Gruppen wie HuK e. V. huk.org+1
Trotzdem ist es weiterhin von Gemeinde zu Gemeinde sehr verschieden.
Für queere Menschen ist es oft hilfreich, sich vorab zu informieren, ob eine konkrete Gemeinde wirklich offen mit LSBTIQ* umgeht.
3. Römisch-katholische Kirche
Die römisch-katholische Kirche hat weltweit ein einheitliches Lehramt, das in Deutschland jedoch auf sehr unterschiedliche pastorale Praxis trifft.
3.1. Offizielle Lehre
Im Katechismus der Katholischen Kirche werden homosexuelle Handlungen als „in sich nicht in Ordnung“ und die Neigung als „objektiv ungeordnet“ beschrieben. Wikipedia+2LSVD+2
Gleichzeitig fordert der Katechismus, homosexuellen Menschen mit „Achtung, Mitgefühl und Takt“ zu begegnen und jede ungerechte Diskriminierung zu vermeiden. Wikipedia+1
Die katholische Kirche lehnt nach wie vor die sakramentale Ehe für gleichgeschlechtliche Paare ab.
3.2. Segnungen & aktuelle Entwicklungen
- 2021 hatte der Vatikan die Segnung gleichgeschlechtlicher Paare ausdrücklich untersagt, was weltweit für Protest sorgte. Katholisch.de
- Ende 2023 veröffentlichte das vatikanische Dikasterium f. d. Glaubenslehre die Erklärung „Fiducia supplicans“. Darin wird grundsätzlich die Möglichkeit eröffnet, Menschen in „irregulären Situationen“ – dazu zählen auch gleichgeschlechtliche Paare – zu segnen, ohne ihre Beziehung als solche kirchenrechtlich anzuerkennen. Wikipedia
In Deutschland hat die Deutsche Bischofskonferenz 2025 eine Handreichung veröffentlicht, wie Segnungen von wiederverheirateten Geschiedenen und homosexuellen Paaren pastoral umgesetzt werden können. Katholisch.de
In der Praxis bedeutet das:
- In manchen deutschen katholischen Gemeinden gibt es inzwischen Segnungsgottesdienste für queere Paare („Segen für alle“).
- Priester, die queere Paare segnen, bewegen sich oft am Rand des bisher Gewohnten, aber nicht mehr so klar im offenen Widerspruch wie früher.
- Eine kirchliche Trauung analog zu heterosexuellen Paaren ist weiterhin nicht vorgesehen.
Es gibt innerhalb der Kirche starke Spannungen:
von sehr offenen, queersensiblen Seelsorger*innen bis hin zu Bischöfen, die Segnungen weiterhin strikt ablehnen.
4. Freikirchen und unabhängige Gemeinden
Unter „Freikirchen“ und „freien Gemeinden“ fallen z. B.:
- evangelikal geprägte Gemeinden,
- pfingstkirchliche/charismatische Bewegungen,
- unabhängige Bibelgemeinden.
Hier ist die Bandbreite extrem groß:
- Ein Teil vertritt eine sehr konservative Sexualmoral und lehnt gelebte queere Beziehungen klar ab (z. B. „nur heterosexuelle Ehe ist gottgewollt“).
- Andere Freikirchen und Gemeinschaften arbeiten bewusst inklusiv, feiern Regenbogen-Gottesdienste und trauen oder segnen queere Paare.
Gerade im freikirchlichen Bereich ist es wichtig, konkrete Gemeinden zu prüfen, z. B. anhand:
- Selbstverständnis auf der Website
- Predigten, Statements, Social-Media-Auftritten
- persönlicher Erfahrungen queerer Menschen vor Ort
Auch hier arbeiten teilweise Initiativen wie HuK e. V. oder lokale queer-christliche Gruppen mit Gemeinden zusammen. huk.org
5. Zeugen Jehovas
Bei den Zeugen Jehovas wird gleichgeschlechtliche Sexualität offiziell als schwere Sünde betrachtet. Mitglieder, die offen queere Beziehungen leben oder eine gleichgeschlechtliche Beziehung führen, verstoßen nach der Lehrmeinung gegen die biblische Moral. In der Praxis bedeutet dies: Wer in einer queer gelebten Beziehung bleibt oder sich öffentlich als LGBTQIA+ positioniert, riskiert in vielen Fällen Gemeindezuchtmaßnahmen bis hin zum Ausschluss (Exkommunikation). Nach einem Ausschluss vermeiden aktive Mitglieder in der Regel jeglichen Kontakt zu ausgeschlossenen Personen – auch innerhalb der eigenen Familie –, was für queere Menschen zu starken sozialen und psychischen Belastungen führen kann. Studien legen nahe, dass queere Mitglieder in dieser Gemeinschaft häufig unter deutlicher Stigmatisierung leiden. PubMed+1 Gleichzeitig gibt es ehemalige Zeugen Jehovas und unabhängige Initiativen, die queeren Ex-Mitgliedern Unterstützung bieten und zeigen: Identität und Würde verschwinden nicht mit dem Verlust einer religiösen Gemeinschaft. Für queere Menschen, die ihren Glauben behalten möchten, gibt es außerhalb der Wachtturm-Organisation freikirchliche und christliche Gemeinden, die ausdrücklich offen und queer-freundlich arbeiten.
6. Judentum
Das Judentum ist keine einheitliche Kirche, sondern besteht aus verschiedenen Richtungen mit eigenen Rabbinaten und Entscheidungen.
6.1. Orthodoxes Judentum
Die traditionelle halachische Auslegung verbietet gleichgeschlechtlichen Geschlechtsverkehr und lehnt gleichgeschlechtliche Ehen ab. Das bleibt die offizielle Position vieler orthodoxer Richtungen. Wikipedia+1
Queere Jüdinnen und Juden können in orthodoxen Kontexten daher auf starke Ablehnung stoßen, auch wenn es einzelne rabbinische Stimmen gibt, die für mehr Sensibilität eintreten.
6.2. Reform/Progressives und Konservatives Judentum
Im Reformjudentum und Teilen des konservativen Judentums (Conservative Movement) hat sich über Jahrzehnte ein klar queerfreundlicher Kurs entwickelt:
- Reformbewegungen setzen sich seit den 1960er/70er Jahren für Entkriminalisierung und Gleichberechtigung ein und unterstützen LGBTQ+ Rechte ausdrücklich. rac.org+1
- Viele Reform-Rabbiner*innen trauen heute gleichgeschlechtliche Paare, und das oft mit großer Selbstverständlichkeit. reformjudaism.org+1
- Queere Rabbinerinnen und Kantorinnen sind in progressiven Gemeinden keine Ausnahme mehr. ravblog.ccarnet.org
Auch in Europa, z. B. in Großbritannien, stehen progressive jüdische Bewegungen für gleichberechtigte Teilhabe, inkl. gleicher Ehe, queerer Rabbiner*innen und nicht-binärer Liturgie. The Guardian+1
In Deutschland vertritt die Union progressiver Juden ein progressives, modern-inklusives Judentum, das ausdrücklich versucht, Tradition mit moderner Gleichberechtigung zu verbinden. liberale-juden.de+1
7. Islam
Auch im Islam gibt es kein zentrales Lehramt wie im Katholizismus, sondern eine Vielzahl von Rechtsschulen, kulturellen Traditionen und individuellen Interpretationen.
7.1. Traditionelle Position
Die klassische Mehrheitsmeinung vieler islamischer Rechtsgelehrter verurteilt gleichgeschlechtliche sexuelle Handlungen; gleichgeschlechtliche Ehen sind im traditionellen islamischen Recht nicht vorgesehen. LGBTQIA+ Wiki
In vielen Kontexten erleben queere Muslim*innen daher:
- deutliche Ablehnung oder Unsichtbarmachung,
- Tabuisierung des Themas,
- Druck, ihre Identität zu verbergen.
7.2. Progressive und inklusive Projekte
Gleichzeitig wächst weltweit eine liberal-muslimische Bewegung, die für queere Rechte und eine neue Lesart der Texte eintritt.
Ein bekanntes Beispiel in Deutschland ist die Ibn-Rushd-Goethe-Moschee in Berlin:
- Selbstbeschreibung als liberale Moschee, offen für Sunniten, Schiiten und andere.
- Männer und Frauen beten gemeinsam, Kopftuch ist keine Pflicht.
- LGBT-Personen sind ausdrücklich willkommen; 2022 hisste die Moschee als erste in Deutschland eine Regenbogenfahne. Wikipedia+2ibn-rushd-goethe-moschee.de+2
In solchen Räumen können queere Muslim*innen versuchen, beides zusammenzuhalten:
ihren Glauben und ihre queere Identität, ohne sich spalten zu müssen.
8. Weitere Religionen & spirituelle Wege (sehr grober Überblick)
- Buddhismus:
Meist keine zentrale Sexualmoral wie im Christentum/Islam; Ethik orientiert sich eher an Leidvermeidung und Mitgefühl. Viele westliche buddhistische Gruppen sind queerfreundlich, es gibt aber auch konservativere Schulen. - Hinduismus:
Sehr vielfältig. Es existieren traditionelle Erzählungen über geschlechtliche Vielfalt; gleichzeitig gibt es auch homofeindliche Interpretationen. In einzelnen hinduistischen Tempeln (z. B. Dakshinkali in Nepal) wurden Segnungen für gleichgeschlechtliche Paare dokumentiert. LGBTQIA+ Wiki - Esoterik / nicht-konfessionelle Spiritualität:
Häufig offen für queere Lebensentwürfe; der Fokus liegt eher auf persönlicher Erfahrung als auf festen Dogmen.
Auch hier gilt: Jede konkrete Gemeinschaft muss individuell betrachtet werden.
9. Unser Ansatz als Verein „SeiDuSelbst“ zum Thema Glauben
Wir sind keine religiöse Organisation und vertreten keine offizielle theologische Linie. Uns ist wichtig:
- Du darfst queer sein.
- Du darfst gläubig, spirituell, religionskritisch oder atheistisch sein.
- Du darfst mit deinen Fragen, Zweifeln und Verletzungen kommen.
Mit „Queeres Glauben“ wollen wir:
- Informationen bereitstellen
– welche Positionen die großen Kirchen & Religionen grob vertreten,
– wo es queerfreundliche Gemeinden, Initiativen und Ansprechpersonen gibt. - Erfahrungsräume öffnen
– z. B. durch Erfahrungsberichte: „Wie ist es, als trans Person katholisch zu bleiben?“ oder
„Wie lebe ich als schwuler Muslim meinen Glauben?“. - Unterstützung anbieten
– Seelsorgekontakte oder Beratungsstellen empfehlen (auch anonym)
– bei Bedarf weitere queersensible Anlaufstellen recherchieren
Geplante Unterseiten
- Evangelische Kirchen & queere Menschen
- Katholische Kirche & queere Menschen
- Judentum & queere Menschen
- Islam & queere Menschen
- Freikirchen / freie Gemeinden
- Glaube ohne Religion / Spiritualität / Zweifel
- Erfahrungsberichte von queeren Gläubigen
Jede dieser Seiten soll praxisnah erklären:
- Was sagt die offizielle Lehre?
- Wie ist die Realität in Gemeinden?
- Wo finden queere Menschen Unterstützung oder sichere Räume? (Erfahrungen von Mitgliedern aus unterschiedlichen Glaubensgemeinschaften)
10. Wichtiger Hinweis für Betroffene
Wenn du aufgrund deiner sexuellen Orientierung oder deiner Geschlechtsidentität in religiösen Kontexten:
- abgewertet wirst,
- unter Druck gesetzt wirst („Therapie“, „Heilung“, Zwangsouting),
- psychische Gewalt oder Drohungen erlebst,
dann bist nicht du das Problem.
Queerfeindliche Auslegung von Religion ist keine höhere Wahrheit, sondern eine menschliche Interpretation und die darf kritisiert, verlassen oder bewusst anders gelebt werden.
Wir stehen an deiner Seite:
- als Ansprechstelle,
- als Unterstützer bei der Suche nach sicheren Räumen,
- und als Verein, der klar sagt:
Du musst dich nicht zwischen deinem Glauben und deiner Identität entscheiden.
